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Wohin das Licht geht

Jörg Jacob

Lichtlinien gehen auf Spurensuche, zeichnen Wege nach, Farbfelder und Schattenflächen bilden Strukturen, die vor dem Hintergrund alter Bilder neue Deutungen ermöglichen. Das Licht ist hier Mittler, es öffnet Räume, macht Geschichte sicht- und erlebbar, denn sowohl die wahrnehmbar gemachte Präsenz des Lichts als auch seine Bedeutung als Metapher sind Victoria Coelns Arbeiten eingeschrieben. Ihre Überschreibungen vorhandener Raumsituationen mit Lichtstrukturen und -fragmenten ermöglichen eine neue Wahrnehmung vertrauter Orte. Die aktuelle Arbeit Victoria Coelns in Leipzig ist eine Annäherung an die Ereignisse im Herbst ’89. Behutsam macht sie sich mit den Gegenständen ihrer Forschung vertraut, erkundet Stadtraum, Architektur und Geschichte, bevor sie beginnt, mit Licht und Fotografie daran zu arbeiten.

Wohin geht das Licht? – Im Herbst 1989 ging das Licht von der Nikolaikirche aus, zog um den Ring, erleuchtete den Stadtraum. Es folgte dem Weg der Menschen, die sich aus dem geschützten Kirchenraum hinaus auf den Nikolaikirchhof bewegten, von dort schließlich den Weg auf den Leipziger Innenstadtring wagten – und Strahlkraft weit über die Stadt hinaus erreichten. Diesen Weg zeichnen Victoria Coelns Lichtinterventionen nach.

Kunst trifft auf Geschichte. Markante Orte mit ihrem jeweiligen Bedeutungskontext werden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Überschreibungen mit Lichtfeldern, Linien, Rastern bringen die Gebäude zum Sprechen. Formen und Farben folgen nicht nur ästhetischen Entscheidungen, sondern sind vielmehr an den historischen Ereignissen und Erinnerungen orientiert, die mit den Orten  und  Gebäuden verbunden sind. – Die Ereignisse des Jahres 1989 sind Vergangenheit, aber sie sind auch nach drei Jahrzehnten in der Stadt Leipzig und ihrer Bevölkerung präsent. Sie sind manifestiert in Gebäuden und Orten, in Erinnerungen und Erzählungen. Victoria Coelns Arbeiten öffnen verschattete Flächen wie Fenster in jenes schwer Fassbare, in alte Erinnerungen, die sich ablagern in den Schichten der Zeit. Wir, die Betrachtenden, nehmen im Vorübergehen aktiv teil, denn die Schatten, die unsere Anwesenheit bezeugen, werden Teil der Lichtinterventionen. Und indem wir unsere Position in Bezug zu den illuminierten Flächen verändern, ändert sich die sichtbare Form, gerät in Bewegung. Raumbeziehungen zum Bekannten wie zum Unbekannten und auch ihre permanente Wandelbarkeit werden wahrnehmbar. Auf diese Weise schafft Victoria Coeln mit ihrer Arbeit eine gedankliche Beziehung zu den Bewegungen und dem Wandel, der sich im Herbst ’89 in Leipzig vollzog – und weiterhin vollzieht. Schauen und zuhören. Bei Victoria Coelns Arbeiten steht das Schauen an erster Stelle, danach kommt das In-sich-Hineinhören und das Zuhören. Das eigentlich Vertraute, das nun in einem anderem Licht erscheint, wirkt verfremdet und fordert die Bereitschaft dazu heraus, Geschichte und das daran Erinnern neu zu entdecken und Wege zu wagen, die Vergangenheit und Zukunft neu bewegen können.