Wer gehört wird
Dr. Tamara Ehs
„The right to speak is a form of wealth“, schreibt die US-amerikanische Kulturhistorikerin Rebecca Solnit. Das Recht zu sprechen ist eine Form von Reichtum, der in einer demokratischen und deshalb feministischen Gesellschaft umverteilt wird. Wer seine oder ihre Geschichte erzählen kann, hinterlässt Spuren, bleibt in Erinnerung – selbst über 200 Jahre hinweg. Wer gehört wird und wer nicht, definiert den Status quo unserer Gesellschaft. Stimmlosigkeit und Machtlosigkeit gehen Hand in Hand. Nur wessen Stimme Aufmerksamkeit erhält, kann partizipieren, an der Demokratie teilnehmen und Politik mitgestalten. Lange waren Politik und Geschichtsschreibung eine von großen Männern und deren großen Taten, von Königen und Kriegsherren, von Gründervätern und Erfindern. Bertold Brecht kritisierte diese Form der herrschaftlichen Erinnerung in seinen Fragen eines lesenden Arbeiters. Doch erst die Frauenbewegung stellte die Fragen einer lesenden Arbeiterin und räumte auch jenen Menschen Platz in der Geschichte ein, denen lange Zeit nur das Private, nicht aber die Öffentlichkeit zugedacht gewesen war.
Die jahrhundertelange Stimm- und Machtlosigkeit der Frauen hat sich in den Alltag eingeschrieben, und die geschlechtergerechte Umverteilung des öffentlichen Raums, dieses Reichtums an Sichtbarkeit und Handlungsmacht, ist noch längst nicht abgeschlossen. Trotz aller Bemühungen der jüngsten Zeit, auch an die Frauen Wiens zu erinnern, wirkt ihr Ausschluss nach. Noch immer sind fast 90 Prozent aller Wiener Straßen nach Männern benannt. Noch immer zeigen die allermeisten Denkmäler Männer. Warum aber ist es überhaupt wichtig, dass Frauennamen auf den Straßenschildern aufscheinen, dass Denkmäler auch Frauen zeigen? Warum soll gerade im Strauss-Jahr der Frauenfiguren seiner Operetten gedacht werden? Es geht um Identifikation, um Vorbilder, um Begegnung im Alltag, darum, was wir als selbstverständlich ansehen. Ist eine Bundeskanzlerin selbstverständlich? Ist es eine Komponistin? Frauen – und im Übrigen nicht nur Frauen, sondern auch andere in Politik und Öffentlichkeit unterrepräsentierte Gruppen wie zum Beispiel Menschen mit Migrationsgeschichte – erfahren sich immer noch allzu oft als fremd oder in einer Ausnahmesituation. Ihr Frausein wird betont, weil es nicht die Norm ist.
Die Statistik spricht eine klare Sprache, allein wenn wir die Zahl der Bürgermeisterinnen in Österreich oder die Anzahl und Redezeit weiblicher Abgeordneter im Nationalrat betrachten. Meinungsumfragen bestätigen zudem die Zählebigkeit von Geschlechterstereotypen: Selbst Personen, die eine generelle Bereitschaft zeigen, eine Frau zu wählen, stellen an ihre Qualifikation explizit Bedingungen, die sie bei einem Mann implizit als gegeben annehmen. Frauen müssen sich erst als politik- und öffentlichkeitsfähig erweisen, während es Männern qua Geschlecht zugesichert ist. Good Girls go to the Polling Booth, Bad Boys go Everywhere, fasste eine bekannte politikwissenschaftliche Studie die gesellschaftlichen Verhältnisse zusammen, die trotz allgemeinen Wahlrechts noch immer so gestaltet sind, dass Frauen und Männer zu ungleichen Bedingungen in die Öffentlichkeit treten.
Diesen ungleichen Bedingungen stellten sich die Frauen schon zu Johann Strauss’ Lebzeiten entgegen. Bereits im Biedermeier waren in Wien tausende von Frauen berufstätig, und nicht nur jene der unterbürgerlichen Schichten. Der Vormärz kannte zahlreiche unternehmerisch tätige Frauen, wie die Historikerin Waltraud Schütz jüngst erforschte. Doch erst mit der Revolution von 1848 konnten Frauen gemeinsam und organisiert an die Öffentlichkeit treten. Die zensurfreien Monate ermöglichten, ihre politischen Forderungen nach dem aktiven und passiven Wahlrecht, nach dem Zugang zur Universität sowie nach gleichem Lohn und sozialer Absicherung in Zeitungen und Flugschriften zu verbreiten. Mit dem Wiener demokratischen Frauenverein erhob erstmals ein expliziter Frauenverein seine Stimme, der zudem nicht wohltätige, sondern politische Ziele verfolgte, dessen Mitglieder demonstrierten, petitionierten und die Revolution gegen die kaiserlichen Truppen verteidigten. Obgleich er kaum zwei Monate tätig sein konnte, gilt er als Anstoß der österreichischen Frauenbewegung. Die damaligen Kämpfe für Presse- und Meinungsfreiheit, für die Bindung der Herrschaft an die Verfassung und für die gleichberechtigte Teilhabe der bislang von der politischen Öffentlichkeit ausgeschlossenen Gruppen – Frauen ebenso wie die Arbeiterschaft – markierten den Beginn eines langen Weges der Demokratisierung, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
Viele von Johann Strauss‘ Frauenfiguren brachen aus den traditionellen, ihnen zugedachten Rollenbildern aus, spielten in „Hosenrollen“, die ihnen auch im übertragenen Sinne mehr Bewegungsraum gaben; sie fungierten als Spielmacherinnen der Operetten und beanspruchten Männerdomänen für sich. Doch Ereignisse wie jene eines „Weiberregiments“ im Lustigen Krieg erschienen derart überzeichnet und possenhaft karikiert, dass der Bühnengesellschaft gegenüber dem Publikum von den Zensurbehörden kaum subversives Potenzial zugemessen wurde. Die Gültigkeit der traditionellen Geschlechterkonzepte und -hierarchie stand vordergründig nie in Frage, merkt die Theaterwissenschafterin Marion Linhardt an. Eine mögliche Aufkündigung der Geschlechterstereotype nahmen die Berichterstatter der k. k. Polizei-Direktion nicht ernst; sie stießen sich vielmehr an revolutionären Formulierungen wie „souveraines Volk“ im Prinz Methusalem.
In der Bühnengesellschaft des Johann Strauss konnten Frauen Teil jenes souveränen Volkes sein, wie es ihnen in der realen Welt noch lange vorenthalten bleiben sollte. Auch wenn einige Frauen schon zu Strauss‘ Zeiten auf der Basis von Haus-, Grund- oder Gewerbebesitz aufgrund ihrer Steuerleistung wahlberechtigt gewesen waren, durften sie doch am Wahltag nicht einmal ihre Stimme selbst abgeben oder gar das Wahllokal betreten. Diese Form von Öffentlichkeit blieb selbst den großbürgerlichen Frauen verwehrt. Good Girls didn’t even go to the Polling Booth… Erst 1918 erlangten alle Frauen das allgemeine und gleiche Wahlrecht – und waren damit ins Parlament wählbar, um die Gesellschaft mitzugestalten.
Der Rückzug ins Biedermeier oder die Eroberung des öffentlichen Raumes werden auch im Jahr 2025 wieder und neu verhandelt; etwa, wenn Tradwives auf Social Media alte Rollenmuster ausstellen und somit Strauss‘ Hosenrollen umkehren, indem Unternehmerinnen (und nichts Weniger sind Influencerinnen) ihre Illusion der biederen Hausfrau in Szene setzen. Der öffentliche Raum – ob er nun virtuell oder dinglich vorhanden erlebt wird – spielt eine tragende Rolle für die demokratisch organisierte Gesellschaft. Er dient als Ort, an dem man sich unabhängig von der sozialen Stellung aufhalten kann und wo man einander begegnet, ohne sich verabredet zu haben, wo man durch zufällige Gespräche mit anderen Ansichten konfrontiert und, ja, auch herausgefordert wird. Straßen, Parks, Plätze, aber auch virtuelle Räume und ihre allgemeine Zugänglichkeit müssen in der Demokratie als Teil der Daseinsvorsorge verstanden werden.