Das Licht ist ein Ding
Andreas Spiegl
“The quality of light by which we scrutinize our lives has direct bearing upon the product which we live, and upon the changes which we hope to bring about through those lives. It is within this light that we form those ideas by which we pursue our magic and make it realized”.
(Audre Lorde, Poetry is Not a Luxury, 1977*)
Die Erfahrung, dass man Dinge auch anders sehen kann, anders als man gewohnt war sie wahrzunehmen – dass sich die Sicht auf diese verändern kann, wenn man die Perspektive wechselt, sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, zu einem anderen Zeitpunkt, aus der Entfernung von ein paar Stunden oder Jahren – wirft ein kritisches Licht auf das Sehen: Offensichtlich ist das Sehen kein Garant dafür, dass die Dinge so sind, wie man sie sieht. Es ist das Sehen selbst, das die Realität in einem bestimmten Licht erscheinen lässt.
Das Sehen sieht nur dieses Licht, unter dem sich die Dinge zeigen: In Platons Höhlengleichnis war es nicht einmal das Licht, das sich den Augen zeigt sondern nur die Schatten der Dinge, die für die Dinge selbst gehalten werden. Aus dieser Perspektive liegt seit Jahrhunderten ein langer Schatten auf dem Sehen, das eher der Täuschung unterliegt als einen Blick auf das Wahre ermöglicht. Diese Kritik am Sehen schickt aber voraus, dass es diese Dinge oder die Wahrheit schon gäbe, dass diese schon da wären und nur darauf warten würden, richtig gesehen und erkannt zu werden. Das Sehen erscheint dieser Kritik als sekundäre Natur, die zur vorausgesetzten Realität erst hinzukommt; was dann folgt ist ein Streit darüber, etwas richtig oder falsch zu sehen. Was diese Kritik nicht sieht oder sehen will, ist die Möglichkeit, dass gerade die Veränderbarkeit der Perspektiven einen Raum eröffnet, in dem unterschiedliche Ansichten und Erfahrungen – mithin die Bedingungen von Politik und Kultur – möglich werden: die Tatsache ist, dass die Dinge (nur) in verschiedenem Licht erscheinen können. In diesem Sinne liegt in der Schwäche des Sehens, in dessen Mangel, die Dinge nicht so sehen zu können wie sie in Wirklichkeit wären, dessen politisches Credo und Argument – ein Plädoyer dafür, das erst die Möglichkeit der verschiedenen Perspektiven einen Raum für Diversität und Meinungsvielfalt eröffnet, ein Plädoyer für das Anrecht darauf, divergente Blickwinkel einnehmen zu können.
Aus dieser Perspektive vermitteln die Lichtinterventionen von Victoria Coeln ein Plädoyer dafür, Orte und die mit diesen verbundene(n) Geschichte(n) in einem anderen Licht sehen und die Perspektiven verschieben zu können. Dabei geht es nicht darum, diese Orte und die mit ihnen verbundenen Ereignisse in neuem Licht oder theatralisch erscheinen zu lassen, sondern herauszuschälen, dass der vermeintlich alltägliche oder gewohnte Blick auf diese auch nur das Produkt einer ganz bestimmten Perspektive darstellt. Das Staunen ob des neuen Erscheinungsbildes verändert nicht nur die Wahrnehmung von Orten sondern aktualisiert die unsichtbare Theatralität des Alltäglichen: erst der veränderte Blickwinkel, das Sehen unter anderem Licht generiert die Bedeutung, schält sie als generierte Bedeutung heraus. Das illusionistische Moment liegt nicht im spektakulären Licht, das Coeln in Szene setzt, sondern in der Vorstellung, die Dinge würden unabhängig von dem Licht existieren, in dem sie erscheinen. Licht, das ist ein Ding.
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*Lorde, Audre: The Master’s Tool Will Never Dismantle the Master’s House; Penguin Books, Estate of Audre Lorde, 2017, 1)