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Crossing Realities

Lucas Gehrmann

Wenn Victoria Coeln für die Erstellung ihrer Chromographien auf die von ihr aus- und aufgesuchten, von Sonnen- oder Kunstlicht kaum bis gar nicht erhellten Orte, Räume, Stätten speziell gefertigte Licht-Bilder projiziert, bewirkt sie, wie sie selbst sagt, nicht etwa eine Beleuchtung derselben, sondern deren „Belichtung“. Das heißt: Victoria Coelns spezifische Art der Illumination ihrer Sujets geht der Belichtung des fotografischen Filmmaterials voran – das intendierte chromographische Bild besteht für die Dauer der Projektion bereits im realen dreidimensionalen Raum.

Dessen fotografische Ablichtung dient dann vor allem seiner Transformation ins zweidimensionale, andernorts präsentier- und auch reproduzierbare Bild-Format. „Belichten“ bedeutet aber vor allem auch: sichtbar machen, zum Erscheinen bringen. Und ganz in diesem Sinn bewirkt Victoria Coelns chromotope Erstbelichtung sowohl eine räumliche Vertiefung der realen In-Situ-Gegebenheit als auch deren Verfremdung insbesondere in farblicher und formaler Hinsicht. Und diese Verfremdung vermag – auch angesichts ihrer fotografischen Abbildung –ein vielgestaltiges Rätselraten bewirken: Was zeigt dieses Bild, wo wurde es gemacht, was steckt hinter seiner sichtbaren Oberfläche? Ist es mehr oder etwas anderes als ein fotografisch, womöglich malerisch oder sonst wie produziertes ästhetisches Kunst-Bild? Womit zugleich die zweite Phase der „Belichtung“ beginnt: eine gedankliche, recherchierend-rekonstruierende oder auch phantasierende Archäologie durch die Betrachter*innen. Diese Suche nach Zusammenhängen topographischer, zeitgeschichtlicher, politischer und/oder ästhetischer Natur führt uns somit unter die in Farblicht gehüllten Oberflächen der von Victoria Coeln ausgewählten Kultur- und Naturdenkmäler. Gegenwärtiges, aber vor allem auch zeiträumlich weit entfernte Schichten werden herausgeleuchtet, Vergangenes wird geistig belichtet. „Wenn ich eine gewisse Zeit im Raum bin“, sagt die Künstlerin, „fange ich an, geistig Spuren in den Raum zu legen. Wenn jemand den Raum betritt, entstehen in meiner Vorstellung Linien auf dem Boden, ein zweidimensionaler Gitterraster. Wenn diese Person mit Blicken den Raum abtastet, entsteht ein weiteres dreidimensionales Gewebe im Raum. Ich sehe das als weiße Linien, die mir den Raum aufspannen. Wenn ich mir weiter vorstelle, dass diese Person währenddessen in Vergangenheit und Zukunft denkt, entsteht durch diese Zeitlinien eine immens dichte, zumindest vierdimensionale Matrix, die den Raum füllt, ihn erweitert und durch ihn diffundiert.“

Die Räume, in und über die Victoria Coeln ihre Licht-Spuren legt, sind dabei von sich aus schon multi-kulturell und -chronografisch aufgeladen. Göbekli Tepe etwa, eine der weltweit ältesten und zugleich größten Kultstätten, gilt als Ursprungsort des Getreideanbaus und markiert damit den Übergang vom nomadischen zum sesshaften Menschen. Das sogenannte Serapeion in Ephesos hielt die Archäologie zuerst für einen Tempel des Kaiser Claudius, dann für ein Nymphäum, später für ein der synkretischen ägyptisch-hellenistischen Gottheit Serapis geweihtes Heiligtum, und zuletzt für einen Musentempel. In frühchristlicher Zeit wurde das vieldeutbare Gebäude in eine Kirche umgewandelt. Und die Siebenschläferhöhle von Ephesos, wo sieben Christen seit ihrer Verfolgung durch Kaiser Decius 200 Jahre lang geschlafen haben sollen – so lange nämlich, bis das Christentum römische Staatsreligion wurde – ist heute ein Wallfahrtsort sowohl für Christen als auch für Muslime. Paşa Bağ, auch Tal der Mönche genannt, liegt in jener Region Kappadokiens, durch die die alte Seidenstraße führte. Seit der Bronzezeit erweiterten hier die Menschen die von der Natur geformten Höhlen im Tuffgestein der Landschaft und bauten sie im Laufe der Zeit zu umfangreichen Wohn- und Klosterkomplexen und kompletten Städten aus. In den durch Erosion entstandenen Felskegeln, den „Feenkaminen“ von Paşa Bağ, haben sich in der Nachfolge des Symeon Stylites des Älteren, der als der erste Säulenheilige gilt, ab dem 5. Jahrhundert Mönche ihre Einsiedeleien eingerichtet. Statt wie Simeon auf einer Säule zu leben und zu predigen, wirkten diese „Styliten“ aus ihren kaum zugänglichen Felsturmhöhlen in zirka 10 Meter Höhe. Der Tuz Gölü-See schließlich ist mit 33% Salzanteil einer der salzhaltigsten Seen der Welt. 70% des in der Türkei konsumierten Salzes werden hier gewonnen. In den Sommermonaten bildet sich an seiner Oberfläche eine kristalline Salzschicht, die, abhängig vom Winkel des einfallenden Sonnenlichts, verschiedene Farben annimmt. Das chromotope Licht Victoria Coelns bringt das weiße Gold von Tuz Gölü hingegen nachts zum Erscheinen und verwandelt die Salzhügel seiner Salinen in vielfarbig leuchtende Berglandschaften.

Chromotopia, wie die Künstlerin die mehrdimensionalen Ergebnisse ihrer chromotopen Interventionen nennt, könnte auch der Name einer Weltlandschaft sein, die Victoria Coeln von Region zu Region in ihr Licht setzt, um all die in ihr enthaltenen, sich überlagernden und kreuzenden Wirklichkeiten sichtbar zu machen. Für ihre Ausstellung am Yunus Emre Enstitüsü, dem türkischen Kulturzentrum in Wien, hat sie jenen wichtigen Teil von Chromotopia erschlossen, an dem sich die Wege östlicher und westlicher Kulturen seit Menschengedenken begegnen.